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Francesco und das Jahr 1961 oder mein Vater, der Hunger und die Hoffnung.


Der Hunger und die Hoffnung

Die Geschichte hat mir mein Vati, Francesco, heute erzählt. Ich möchte sie euch nicht vorenthalten, den sie ist besonders.

Es war ein grauer Morgen im Jahr 1961, als Francesco Antonio Viggiani zum ersten Mal die Mauern von Montescaglioso hinter sich ließ. Der Duft von geröstetem trockenem Brot und frisch aufgewärmten Kaffee hing noch in seiner Erinnerung, ein letzter "Ciao Mamma" zu seiner Mutter, bevor er sich auf die Reise nach Bari machte.

Die Landschaft Süditaliens zog wie ein verblasstes Gemälde an ihm vorbei. Jedes Dorf, jeder Hügel erzählte Geschichten von Entbehrung und Überlebenskampf. Francesco war gerade einmal 18 Jahre alt, aber seine Augen hatten bereits mehr gesehen als manch ein alter Mann.

Geboren 1943, mitten im Krieg, war seine Kindheit geprägt von Hunger und Unsicherheit. Seine Mutter, eine Frau mit Händen so hart wie das Leben selbst, hatte stets versucht, ihm ein Lächeln zu schenken - auch wenn die Teller dünn blieben und die Hoffnung oft nur ein dünner Faden war.

Die Militärmusterung in Bari war sein erster großer Schritt in die Welt. Ein Pflichttermin, dem er mit gemischten Gefühlen entgegenfieberte. Der Hunger war sein ständiger Begleiter, ein treuer, wenn auch unbarmherziger Freund.

Als er in der Militärkaserne ankam, war seine erste Sorge nicht die Uniform oder die Disziplin, sondern das knurrende Verlangen seines Magens. Die Anweisung des Soldaten - "Morgen ist Arztvisite, bis dahin gibt es nichts zu essen" - hallte wie Hohn in seinen Ohren.

Sein Magen knurrte eine Symphonie der Entbehrung. Die Laune war miserabel, aber was blieb ihm anderes übrig? Mit leerem Bauch und schweren Gedanken legte Francesco sich in das harte Militärbett. Die Decke schien die Kälte der Hoffnungslosigkeit zu reflektieren.

Am nächsten Morgen verlief die ärztliche Untersuchung wie erwartet. Der Arzt durchsuchte jeden Winkel seiner Gesundheit, musterte ihn von Kopf bis Fuß und entließ ihn mit den bürokratischen Worten: "Die Ergebnisse werden in den nächsten Tagen eintreffen."

"Va bene, grazie", antwortete Francesco lakonisch. Und in diesem Moment hatte er nur ein einziges Ziel: die Militär-Mensa. Der Hunger war sein Kompass, die Hoffnung auf eine warme Mahlzeit sein einziger Gedanke.

Die Mensa war wie ein Versprechen. Der Duft von Maccaroni und Tomatensoße umhüllte ihn wie eine verlockende Umarmung. Ohne lange zu zögern, griff er zu. Jeder Bissen war eine Rebellion gegen den Hunger seiner Kindheit, jede Gabel ein Triumph.

Der Hunger war ein unbarmherziger Begleiter. Ein junger Mann von gerade einmal 18 Jahren, der über 24 Stunden nichts zwischen die Zähne bekommen hatte, blickte nun auf den dampfenden Teller vor sich. Die Makkaroni mit Tomatensoße waren wie ein Versprechen, eine Erlösung.

Kaum hatte er zwei, drei, vier Gabeln verschlungen, durchbrach eine schrille Stimme die Stille der Mensa. Ein kleiner, giftiger Offizier von kaum 1,60 Meter Größe stand am Eingang und brüllte: "Was machst du da?! Warte, bis die Kameraden auch da sind!"

Francesco ließ sich nicht beirren. Der Hunger war stärker als jede Disziplin, und offiziell war er ja noch kein Soldat. Seine Augen fixierten den Teller, seine Gabel tanzte weiter zwischen den Nudeln.

Der kleine Offizier, rot vor Wut, näherte sich mit einer Handbewegung, offensichtlich gewillt, Francesco bei der Schulter zu packen. Ein Fehler. In diesem Moment explodierte die Situation: Getrieben von Hunger und dem instinktiven Abwehrreflex gegen die drohende Berührung, schubste Francesco den Offizier.

Es geschah alles wie in Zeitlupe. Der Offizier stolperte, prallte gegen die Salontür und flog hinaus. Francesco, noch immer vom Hunger getrieben, verschlang hastig weiter die Makkaroni. Die Tomatensoße schmeckte köstlich, fast wie ein Triumph.

Doch die Ruhe war nur von kurzer Dauer. Kurz darauf kehrte der Offizier zurück - diesmal mit Verstärkung. Soldaten flankierten ihn, Strenge in ihren Gesichtern. Francesco Antonio hatte keine Chance mehr.

Er wurde zum diensthabenden Soldaten geführt und einvernommen. Seine Sturheit und mangelnde Einsicht - schließlich war er ja offiziell noch kein Soldat - spielten ihm nun übel mit. Die Strafe war hart aber gerecht aus Sicht des Militärs: Hausarrest.

Während seine Kameraden die kommenden Tage mit Ausflügen und Ablenkungen verbrachten, blieb Francesco in der Kaserne eingesperrt - ein junger Mann, dessen einziges Verbrechen es war, dem Hunger nachgegeben zu haben.

Als er schließlich die Nachricht erhielt, dass er für den Militärdienst tauglich sei, wusste Francesco: Dies war nicht sein Weg. Wenige Tage später packte er seine bescheidene Habe und wandte sich gen Norden. Mailand wartete, mit Verheißungen von Arbeit und einem Leben jenseits der Enge von Montescaglioso.

Seine Reise war natürlich mehr als eine geografische Bewegung. Es war eine Flucht aus der Armut, ein Sprung ins Ungewisse, getragen von der unstillbaren Sehnsucht nach etwas Besserem.

So verließ Francesco Antonio Viggiani sein Dorf, Montescaglioso - mit nichts als Hunger im Magen und Hoffnung im Herzen.

Kinder und Junge Leute in Süditalien, nach Kriegsende.



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Kommentare

  1. Respekt an unsere Eltern, die so brav und stark waren und trotz Schwierigkeiten so viel erreicht haben. ❤️

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